Zum Inhalt springen

03 | Neustadt-Neuschönefeld

Leipzig | Eine Stadt im Wandel

Ein Podcast von Otto Thasler, Severin Schleicher, Vincent Kluger und Felix Kuhley. Aufgenommen im Sommersemester 2022 im Rahmen einer Lehrveranstaltung über sozialempirische Arbeitsmethoden in der Humangeographie.

Die Podcastfolge „Entwicklung lokaler Ökonomien und Gentrifizierung in der Leipziger Eisenbahnstraße” basiert auf einer Exkursion im Mai 2022. Dort haben wir versucht der Straße und dem Viertel Neuschönefeld näher zu kommen. Durch Gespräche mit den Menschen vor Ort und unseren persönlichen Eindrücken und Daten erklären wir die Strukturen in Hinblick auf die Konzepte der Daseinsgrundfunktionen und 15-Minuten-Stadt. Wie nehmen die Bewohner*innen ihren Stadtteil selbst wahr und was hat sich in den letzten Jahren verändert? Welche Verdrängungsprozesse finden statt und wie weit ist eine mögliche Gentrifizierung fortgeschritten? Eine stadtgeographische Perspektive auf die Entwicklung der Eisenbahnstraße in Leipzig-Neuschönefeld.


Der Podcast sowie die nachfolgenden ShowNotes wurden von Otto Thasler, Severin Schleicher, Vincent Kluger und Felix Kuhley in Eigenarbeit im Rahmen einer Lehrveranstaltung zu sozialempirischen Arbeitsmethoden in der Humangeographie erstellt.


The Long Read

Dieser Podcast ist im Rahmen des Seminars Arbeitsmethoden der Humangeographie entstanden. Ziel des Seminars ist die Beschreibung des seit 2012 stattfindenden Wandels der Stadt Leipzig und dessen Auswirkungen auf die Verhaltensmuster und Zufriedenheit seiner Bewohner*innen. Unsere Forschungsgruppe hat dabei den Fokus auf die Eisenbahnstraße und die angrenzenden Stadtteile (Neustadt-)Neuschönefeld und Volkmarsdorf gesetzt. Wenn wir in den Shownotes eines dieser Geonyme verwenden, steht es im Sinne des Prinzips „Pars pro toto“ für das gesamte Untersuchungsgebiet. Um uns der Forschungsfrage annähern zu können, haben wir eine Befragung von Passant*innen sowie eine Kartierung entlang der Eisenbahnstraße durchgeführt. Diese wird an den passenden Stellen immer wieder zur Grundlage unserer Forschungsarbeit. Für eine bessere und klarere Struktur wurde die übergeordnete Forschungsfrage mit 6 zielgerichteten Teilbereichen operationalisiert. Diese sind kurz aufgelistet:

  • Inwiefern lässt sich der o. g. Wandel im Hinblick auf Gentrifizierung, Entwicklung der lokalen Ökonomie und Segregationsprozesse in den betrachteten Stadtteilen belegen?
  • Inwiefern spielt die Entwicklung des Tourismus im o.g. Wandel eine Rolle?
  • Inwiefern zeigen sich in den einzelnen Stadtteilen Defizite in der Versorgung der lokalen Bevölkerung entlang ausgewählter Stadtentwicklungskonzepte?
  • Inwiefern werden Defizite in der Erfüllung der Daseinsgrundfunktionen von der Bevölkerung wahrgenommen?
  • Inwiefern zeigen sich im Zuge des Wandels Änderungen in der Nutzung/Bewertung von (grüner) Infrastruktur in den jeweiligen Stadtteilen?
  • Inwiefern lassen sich Änderungen der Zufriedenheit/des Verhaltens der Bevölkerung auf er-höhte touristische Nutzungen zurückführen?

Um den Forschungsgegenstand zu verstehen, braucht es zugrundeliegende Konzepte und Theorien. Die Entwicklung eines Quartiers beschreiben wir zum Beispiel mithilfe des Konzepts der Daseinsgrundfunktionen. Nach Ruppert und Schaffer (1969) werden die Daseinsgrundfunktionen In Gemeinschaft leben, Wohnen, Arbeiten, Versorgung, Bildung, Erholung und Teilnahme am Verkehr definiert. Damit wir die Erfüllung der Daseinsgrundfunktionen beschreiben können, ziehen wir die Überlegung der 15-Minuten-Stadt heran (vgl. Moreno et al., 2021). Wir werten dafür nicht tatsächlich einen 15-Minuten-Bewegungsradius aller Akteure aus, sondern vereinfachen stattdessen das Konzept für unsere Anwendung. Denn: Wir gehen davon aus, dass wenn eine Funktion im Quartier vorhanden ist, sie auch die Bedürfnisse der dort lebenden Bewohner*innen erfüllen kann

Entwicklung der Stadt Leipzig

In der Stadt Leipzig, welche 2015 ihr 1000-jähriges Bestehen feierte, hat seit der Jahrtausendwende viel Wachstum erfahren. Im Folgenden werden die Entwicklungen des BIP, der Einwohnerzahlen, der Mietpreise und des Tourismus dargestellt. Seit 2010 hat sich das Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen um knapp 45% erhöht (Stand 2019). Dabei ist in der Abbildung 1 auffällig, dass das Wachstum sehr kontinuierlich gestiegen ist. Leipzig ist die einzige Stadt, welche es in Sachsen geschafft hat, trotz der einflussreichen Covid-19-Pandemie 2020 ihren BIP im Vergleich zum Vorjahr zu steigern (vgl. Statistik Sachsen). Betrachtet man die Einwohnerzahlen der letzten 10 Jahre (Abb. 2) kann unschwer erkannt werden, dass die Bevölkerung kontinuierlich wächst. Dieser Prozess beginnt ungefähr zu Jahrtausendwende. Vorher verlor Leipzig viele Einwohner, was mit der deutschen Wiedervereinigung in Zusammenhang gebracht wird. Laut der Bevölkerungsvorausschätzung der Stadt Leipzig könnten bis 2030 rd. 644.000, beziehungsweise bis 2040 rd. 665.000 Menschen leben. Der Zuzug wird also langfristig bestehen bleiben.

Abb 01: Anzahl der EinwohnerInnen in Leipzig zwischen 2011 und 2021 (Eigene Darstellung auf Basis Stadt Leipzig)
Abb 02: Entwicklung des BIP (gesamt) für die kreisfreie Stadt Leipzig zwischen 2010 und 2019 (Eigene Darstellung auf Basis der Daten des Statistischen Landesamtes Sachsen)

Die steigenden Einwohnerzahlen bewirken auch eine Verknappung des Wohnungsmarktes. Das führt dazu, dass Mietwohnungen ständig teurer werden. Dabei wird hier der Quadratmeterpreis für die Grundmiete/ Kaltmiete über die Jahre verglichen. Hier fällt in auf (Abb. 3), dass der Preis pro Quadratmeter von 5€ (Stand 2011) auf mittlerweile knapp 6,5€ (Stand 2021) gestiegen ist. Eine weitere wichtige Entwicklung ist die des Tourismus. Leipzig hat von 2011 bis zum Beginn der Corona Pandemie stetig steigende Besucher- und Übernachtungszahlen. So kamen, wie in Abbildung 4 zu erkennen ist 2011 1,19 Millionen Besucher in die Stadt. 2019 hingegen sind es schon 1,93 Millionen Gäste. Im Jahr 2020 und 2021 gibt es pandemiebedingt jeweils weniger als 100.000 Touristen in der Stadt. Es ist davon auszugehen, dass nach der Pandemie die Ankünfte in Leipzig schnell wieder das Niveau von 2019 erreichen oder sogar überholen.

Abb. 03: Anzahl der Ankünfte von Tourist:innen in Leipzig in der Zeit von 2011 bis 2021 (Eigene Darstellung auf Basis der Daten des Statistischen Landesamtes Sachsen)
Abb. 04: Höhe der Mediangrundmiete in Leipzig in der Zeit von 2011 bis 2021 (Eigene Darstellung auf Basis der Daten der Stadt Leipzig)

Charakter der Stadtteile Neustadt-Neuschönefeld und Volkmarsdorf

Die Stadtteile Neustadt-Neuschönefeld und Volkmarsdorf werden beide von Ost nach West von der Eisenbahnstraße durchkreuzt. Dort und in den angrenzenden Querstraßen befinden sich aneinandergereiht zahlreiche lokale Ökonomien. Von 132 kartierten Einzelhändlern, Dienstleistungsunternehmen und Gastronomien gehören lediglich 4 Geschäfte überregionalen Ketten an. Der Großteil der lokalen Ökonomien sind Familienunternehmen und werden von Menschen mit Migrationshintergrund geführt. Es handelt sich hierbei oft um türkische, kurdische oder arabische Imbisse, Restaurants und Lebensmittelgeschäfte. Außerdem fällt auf, dass es in der Eisenbahnstraße 10 Ladengeschäfte gibt, die leerstehend sind. Laut Aussagen eines Passanten seien viele lokale Ökonomien nur kurzlebig und die Geschäftsräume würden häufig die Mieter*innen wechseln. Die Bevölkerungsstruktur hat verschiedene Gesichtspunkte. Zum einen finden sich in dem Viertel hohe Ausländer- und Migrantenanteile. Werden diese mit der gesamten Stadt Leipzig verglichen (Abb. 5) fällt auf, dass es anteilig an der Bevölkerung in den Vierteln knapp 3-mal mehr Ausländer und mehr als doppelt so viele Migranten gibt. Außerdem ist das Durchschnittsalter aussagekräftig (Abb. 6): Sowohl in Volkmarsdorf als auch Neustadt-Neuschönefeld sind die Bewohner im Schnitt 7 bis 8 Jahre jünger als im Durchschnitt der Stadt Leipzig. Dabei ist die Jugendquote (U15/15-65Jahre) im Vergleich zu Leipzig nicht so ausschlagend. Vielmehr gibt es sehr wenig alte Menschen. Die Altenquote (Ü65/15-65 Jahre) von dem untersuchten Gebiet ist mit 12 % um mehr als die Hälft kleiner als im gesamten Leipziger Stadtraum.

Abb. 05: Anteil an Ausländer:innen und MIgrant:innen in der Gesamtstadt (links) und den Stadtteilen (rechts) (Eigene Darstellung auf Basis der Daten des Statistischen Landesamtes Sachsen)
Abb. 06: Altersdurchschnitt in der Gesamtstadt, den Stadtteilen und im Rahmen der Befragung (Eigene Darstellung auf Basis der Daten des Statistischen Landesamtes Sachsen)
Abb. 07: Entwicklung des Altersdurchschnitts in den Stadtteilen in der Zeit von 2012 bis 2020 (Eigene Darstellung auf Basis der Daten des Statistischen Landesamtes Sachsen)

Seit Anfang der 2000er sind in Neustadt-Neuschönefeld & Volkmarsdorf die Einwohnerzahlen gestiegen. Von 2012 bis 2020 sind in Summe 8079 Menschen dazugekommen. Dabei unterscheiden sich die beiden Stadtviertel kaum: Volkmarsdorf ist etwas stärker gewachsen und ist jetzt mit Neuschönefeld gleich auf. Das Durchschnittsalter der Bevölkerung wiederum ist stetig gefallen, von 2012 bis 2018 sind die Menschen hier im Schnitt 3,3 Jahre jünger geworden. Volkmarsdorf verändert sich dabei wieder etwas stärker: 2012 waren die Menschen dort ungefähr 2,5 Jahre älter, wobei sie 2018 das Durchschnittsalter von Neuschönefeld unterschritten haben (Abb. 7).

Bedeutsam in dem untersuchten Gebiet sind die hohen Ausländer- und Migrantenanteile (Abb. 5): 2012 gab es in Leipzig einen Migrantenanteil von 9,3%. Dieser lag in NeustadtNeuschönefeld und Volkmarsdorf bei über 30. Der Verlauf bis heute zeigt, dass diese Anteile sowohl in Leipzig als auch in den Vierteln entlang der Eisenbahnstraße gestiegen sind. Ein ähnliches Verhältnis zeigt auch der Ausländeranteil. Eine Auffälligkeit findet sich in Volkmarsdorf: Hier stagniert, im Gegensatz zu Neuschönefeld und Leipzig gesamt, die Zunahme von Ausländer- und Migrantenanteilen ab 2016. Bis heute wird dieses Niveau gehalten.

Abb. 08: Umzugsabsichten in den Stadtteilen in der Zeit von 2013 bis 2021 (Eigene Darstellung auf Basis von Daten der kommunalen Bürger:innenbefragung der Stadt Leipzig)

In den vergangenen Jahren (2013-2021) sind die Bestandsmieten im Viertel von ca. 6,50 € auf 8,50 € gestiegen. Dagegen ist im selben Zeitraum die Mietbelastung gesunken. Um hier ein aufschlussreicheres Bild zu erhalten, ist es sinnvoll die Umzugsabsichten zu beobachten. Diese sind heute ähnlich hoch wie 2013. Nur 2017 gibt es einen Einbruch (Abb. 10). Es könnte auf Basis der Daten darauf geschlossen werden, dass der Zuwachs der Bevölkerung hauptsächlich von jüngeren und ledigen Personen (häufig mit Migrationshintergrund) ausgeht. Die gleichgebliebenen Umzugsabsichten könnten ein Zeichen dafür sein, dass es nur bis heute nur geringe Verdrängungsprozesse gibt.

Versorgung der Bevölkerung in den Stadtteilen

Im nun folgenden Teil wird beschrieben, wie die Versorgung mit den Daseinsgrundfunktionen durch die Quartiersbevölkerung wahrgenommen wird. Dazu benutzen wir insbesondere unsere Erkenntnisse aus der Primärerhebung. Um diese Ergebnisse zu visualisieren, werden folgend die Antwortverteilung befragter Passant*innen als Dichteschätzung und gruppiert nach den jeweiligen Stadtteilen dargestellt. Es ist davon auszugehen, dass man erst durch den Vergleich zwischen den Stadtteilen die höchste Aussagekraft erhält, da gewisse Verzerrungen, die durch das Erhebungsinstrument entstehen, ausgeglichen werden und nur Unterschiede zwischen den Stadtteilen betrachtet werden.

Zuerst wird die Daseinsgrundfunktion Bildung betrachtet. In Abbildung 09 sieht man die Zustimmungswerte zur Aussage „Ich bin mit den Bildungsangeboten im Stadtteil sehr zufrieden“ dargestellt. Besonders auffällig ist die stadtteilübergreifend außerordentlich hohe Zahl an Nichtantworten. Das sieht man insbesondere im Vergleich zu den anderen Interviewaussagen. Das bedeutet für uns, dass wir diese Zahlen durchaus etwas kritischer betrachten dürfen. Denn: Für uns liegt generell der Schluss nahe, dass nur ein geringer Teil der befragten Passant*innen einen wirklich umfassenden Eindruck über das Bildungsangebot im Quartier hat. Bildung ist schließlich der Teil der Daseinsgrundfunktionen, der die meisten Menschen nur für einen Teil des Lebensweg betrifft. Das macht diese Frage für uns aber nicht per se unsinnig da wir uns explizit für die subjektive Wahrnehmung der Bevölkerung interessieren, die sich auch aus dem Image des Stadtteils sowie den diffusen, schwer zu verbalisierenden Eindrücken aus dem näheren und weiteren Umfeld der befragten Personen zusammensetzt. Für einen spannenden Einblick in das Selbstverständnisses der Bevölkerung muss diese also nicht zwingend einen unmittelbaren Kontakt zum Untersuchungsgegenstand haben. Bei den Antworten aus der Eisenbahnstraße fällt auf, dass das Bildungsangebot im Vergleich zu den anderen Stadtteilen deutlich negativer wahrgenommen wurde. Der Eindruck aus der Befragung ist also, dass die Daseinsgrundfunktion Bildung im innerstädtischen Vergleich tendenziell schlechter erfüllt wird.

Ein weiterer Teil der Daseinsgrundfunktionen ist die Erholung bzw. Freizeit. Für deren Wahrnehmung haben wir Interviewaussagen in den Abbildungen 10, 11 und 12 aufbereitet. In der ersten Abbildung (10) ist zu erkennen, dass die Bewohner*innen des Stadtteils den Zustand ihrer Grünflächen deutlich durchwachsender bewerten als an den anderen Standorten. Das deckt sich auch mit unseren Erfahrungen aus der Ortsbegehung. Im Stadtteilpark Rabet fanden wir achtlos entsorgten Müll auf den Wiesen und Wegen vor, die Mülleimer selbst sind zum Teil überfüllt gewesen. In diesem Bereich gibt es also auch in den Augen der Bewohner*innen Verbesserungspotential. Das scheint den Park in seiner Funktion als Erholungsort aber nicht wirklich zu schaden. In Abbildung 11 lässt sich erkennen, dass sich ein großer Teil der befragten Passant*innen auf den Grünflächen des Quartiers wohlfühlt. Dennoch zeigen auch hier 3 der 5 untersuchten Standorte (Könneritzstr., Karl-Heine-Str., Jahnallee) eine positivere Wahrnehmung der Grünflächen als die Eisenbahnstraße.

Wenn es um die Menge an Frei- und Erholungsräumen (Abb. 12) im Quartier geht, zeigen sich auch hier im städtischen Vergleich eine unterdurchschnittliche Bewertung des Angebots durch die befragten Passant*innen. Das Stimmungsbild ist hier sehr durchwachsen, während die anderen Untersuchungsstandorte eine tendenziell positive Wahrnehmung aufzeigen und die Könneritzstraße durch ein außergewöhnlich guten Eindruck heraussticht. Auch da deckt sich die Wahrnehmung der Neuschönefelder mit dem, was wir während unseres Aufenthalts in der Eisenbahnstraße mitnehmen konnten. Das Rabet ist die einzige Grünfläche im Stadtteil Neuschönefeld-Volkmarsdorf. Warum das so ist, erklären wir ausführlicher im Podcast.

Als Nächstes soll auf die Eindrücke zum Wohnungsangebot im Stadtteil eingegangen werden. An der Stelle kann die Frage gestellt werden, inwieweit die zufällig ausgewählten Passant*innen eine Aussage zum Wohnungsangebot des Stadtteils geben können. Haben Menschen, die ihre Wohnung im Stadtteil schon sehr lange beziehen wirklich einen
guten Eindruck vom aktuellen Wohnungsmarkt ihres Quartiers? Inwieweit könnten vielleicht Wohnungssuchende einen umfassenderen Eindruck wiedergeben, die aber hier in der Befragung nicht explizit berücksichtigt werden. Deshalb sollte die Aussagekraft dieser Grafiken besonders kritisch bewertet werden, dass sieht man auch an der Tendenz im Vergleich zu den anderen Interviewfragen hier keine Aussage zu treffen (auch in anderen Stadtteilen). Uns soll es also eher um das Stimmungsbild im Viertel, aber eben auch um das Selbstverständnis der Quartiersbewohner*innen im Vergleich zum Rest Leipzigs, gehen.

In der Abbildung 13 ist in der Eisenbahnstraße ein ausgewogenes Meinungsbild mit leicht positiver Tendenz zu erkennen. Dem stehen eher durchwachsende Eindrücke aus der Karl-Liebknecht-Straße und Karl-Heine-Straße entgegen. Das Wohnungsangebot in der Jahnallee und der Könneritzstraße wird dagegen eher positiv wahrgenommen. Ausgehend von dieser Abbildung wird das Wohnungsangebot in der Eisenbahnstraße im innerstädtischen Vergleich also durchschnittlich wahrgenommen.

Die Versorgungsstruktur in der Eisenbahnstraße wird überwiegend positiv wahrgenommen (Abb. 14). Die Eisenbahnstraße ist eine Einkaufsstraße mit einer Menge an vielfältigen Schnellimbissen. Zusätzlich dazu gibt es Wochenmärkte und kleinere Lebensmittelgeschäfte. Unsere Ortsbegehung bestätigt den Eindruck, dass die Eisenbahnstraße ein guter Versorgungsstandort darstellt.

Letztlich lässt sich sagen, dass in keiner der untersuchten Daseinsgrundfunktionen ein eklatanter Mangel festgestellt wurde und alle auch im Sinne der 15-Minuten-Stadt erfüllt werden. Die Funktion Erholung wird in Neuschönefeld prinzipiell erfüllt, zeigt aber durchaus Verbesserungspotential, damit die Aufenthaltsqualität erhöht werden kann und die Freiräume ihrer Aufgabe zur Stärkung der Interaktion und des sozialen Gefüges besser gerecht werden können

Auswirkungen der Veränderungen in den Stadtteilen

Abb. 15: Veränderungen des Besuchverhaltens auf den Grünflächen – Stadtteile im Vergleich (Eigene Darstellung)

Zu Beginn werden die Grünflächen fokussiert. Laut Leipzig-Informationssystem haben sich die Grünflächengrößen in Neustadt-Neuschönefeld und Volkmarsdorf nicht geändert. Das Besuchsverhalten, abgeleitet aus unserer Passant*innen-Befragung, hat sich dabei leicht erhöht, wobei die meisten Befragten angeben, dass sich ihr Besuchsverhalten nicht geändert hat (Abb. 15). Der Zustand der Grünflächen sei laut der Mehrheit der Befragten dabei unverändert geblieben bzw. habe sich leicht verbessert. Diese wahrgenommene Veränderung ist für die meisten Menschen positiv, mache wünschen sich aber noch mehr Zustandsverbesserung.

Abb. 16: Veränderung Preise in der Gastronomie (Eigene Darstellung)
Abb. 17: Veränderung der Anzahl der Lebensmittelgeschäfte (Eigene Darstellung)

Wie in Abbildung 16zu erkennen ist, hat sich die Nutzung von Lebensmittelläden fast nicht geändert. Es ist eine kleine Tendenz zur Mehrnutzung vorhanden. Laut den Befragten ist die Anzahl von Lebensmittelgeschäften deutlich gestiegen (Abb. 17). Dies wird von den Befragten also größtenteils positiv bewertet. Der Anstieg dieser Kategorie Läden könnten durch den generellen Anstieg der Bevölkerung im Viertel erklärt werden. Da es in der Eisenbahnstraße auch sehr viele Lebensmittelläden gibt, welche zu den migrantischen Ökonomien gehören, könnte argumentiert werden, dass der Zuzug von Migranten in den letzten Jahren zu einer Diversifikation und Vermehrung von solchen Betrieben geführt hat. Die Menschen könnten mit der Zunahme auch deswegen so zufrieden sein, weil jegliche kulinarische Nachfrage gestillt werden kann.

Laut der Umfrage ist Nutzung von kulturellen Angeboten größtenteils gleichgeblieben. Ein kleiner Teil der Befragten sagt, dass die Nutzung weniger geworden ist. Ein anderer das Gegenteilige. Scheinbar muss das Angebot zu gering sein, da die Nachfrage aufgrund der gestiegenen Nettohaushaltseinkommen bzw. der Zunahme der Bevölkerung und des Tourismus eigentlich auch gestiegen sein müsste. Die befragten Personen sehen den gefühlten Anstieg der Touristenzahlen im Viertel als größtenteils positiv (Abb. 18)

Abb. 17: Bewertung der Veränderung der Anzahl an Tourist:innen (Eigene Darstellung)

Das Besuchsverhalten von medizinischen Einrichtungen ist dem der Kulturstätten sehr ähnlich. Die Tendenz geht, neben dem großen Teil, dessen Besuchsverhalten sich nicht ändert, eher hin zu häufigeren Besuchen. Dazu wurde im Fragebogen keine Wertung abgegeben. Dennoch könnte man dagegen argumentieren, dass laut LIS das Viertel jünger
geworden ist und junge Menschen tendenziell weniger oft zum Arzt müssen im Vergleich zu älteren. Dafür seien laut Umfrage deutlich mehr allgemeine Dienstleitungsbetriebe dazugekommen. Dies wird von den Passant*innen eher gut bis gut gesehen. Dieses Mehrangebot könnte auch mit der Zunahme der gesamten Bevölkerung zu tun haben.

Zusammenfassung und Fazit

In dieser Forschungsarbeit ist festzustellen, dass sich die Eisenbahnstraße über die letzten 10 Jahre stark verändert hat. Besonders kommt dies in der gestiegenen Bevölkerungszahl zur Geltung. Außerdem ist der Anteil von Migrant*innen gestiegen und hat das für Leipzig überdurchschnittliches Niveau gehalten. Gleichzeitig ist die Altersstruktur
rund um die Eisenbahnstraße für Leipzig außergewöhnlich jung. In diesen Punkten unterscheidet sich die demographische Struktur von Neustadt-Neuschönefeld und Volkmarsdorf vom Leipziger Durchschnitt. Dies ist ein Zeichen für Segregation. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Eisenbahnstraße von dem starken Zuzug junger, lediger oder migrantischer Personengruppen geprägt wird. Dadurch nimmt der historisch bedingte Leerstand des Viertels stetig ab und die Vielfalt in der Versorgungsstruktur und insbesondere im gastronomischen Angebot stark zu. Die Bewohner*innen zeigen sich insbesondere mit dieser Entwicklung sehr zufrieden.

Die Anzahl an Tourist*innen in den beiden Stadtvierteln hat zwar tendenziell zugenommen, der Tourismus insgesamt spielt aber immer noch keine gewichtige Rolle im Quartiersleben. In der gesamten Kartierung konnten wir nur eine touristische Unterkunft feststellen. Hier zeigt sich aber gerade auch durch die Vielzahl an gastronomischen Angeboten Potenzial für die Zukunft.

Die beschriebenen Entwicklungen im Viertel haben für uns zu keiner klar feststellbaren Veränderung im Verhalten der Bewohner*innen geführt. Die Zufriedenheit der Quartiersbevölkerung hat aber in vielen Bereichen zugenommen und die Entwicklung der Eisenbahnstraße wird eher positiv aufgefasst. Nichtsdestotrotz sind die noch zu erwartenden
Entwicklungen entlang der Eisenbahnstraße für die Bewohner*innen kritisch zu bewerten. Das Wohnungsangebot wird zwar im innerstädtischen Vergleich noch positiv wahrgenommen, aber der konstant hohe Zuzug sowie die steigende Attraktivität des Viertels wird die Lage am Wohnungsmarkt in Zukunft wahrscheinlich verschärfen. In Anbetracht
dieser Entwicklung lässt sich für einen einsetzenden Gentrifizierungsprozess argumentieren. Danach befände sich die Eisenbahnstraße aktuell in der ersten Expansions- oder auch Pionierphase. Dieser Argumentation folgend, wären in Zukunft auch weitere Segregations- und zusätzlich einsetzende Verdrängungsprozesse denkbar. Die Versorgungsstruktur wird sich in Zukunft wahrscheinlich weiter verbessern, sich im Gegenzug aber die sozialen Spannungen verstärken. Können sich die einkommensschwächeren Haushalte in Zukunft überhaupt noch die Miete in Neustadt-Neuschönefeld und Volkmarsdorf leisten oder werden sie durch einkommensstärkere Gruppen verdrängt? Auch die sehr starke lokale Ökonomie, die in gewisser Hinsicht den Kern dieses Quartiers ausmacht, wäre aufgrund steigender Ladenmieten bedroht. Der große finanzielle Druck auf die Gastronomie lässt sich bereits am Preiszuwachs erkennen.

Grundlegend gilt für die Stadtplanung, dem einsetzenden Gentrifizierungsprozess zuvorzukommen und die einkommensschwachen Haushalte sowie die lokalen Ökonomien zu schützen. Gelingt das nicht, werden die charakteristischen Lokale und Einzelhändler, besonders auch die migrantische Ökonomien, verdrängt und das Viertel verliert seine besondere Atmosphäre. Als zweite Herausforderung muss Neuschönefeld dem in ganz Leipzig stattfindenden Bevölkerungszuwachs gerecht werden. Das wird außerordentlich schwierig, denn viel freie Flächen für Neubauten gibt es im dicht bebauten Viertel nicht mehr. Wenn der Zuzugsdrang anhält und die Mieten weiter steigen, wird die Eisenbahnstraße als einer der einkommensschwächsten Orte Leipzigs ein gesteigertes soziales Konfliktpotenzial bergen.

Literatur und Quellen

  • Adam, B., Sturm, G. (2014): Was bedeutet Gentrifizierung und welche Rolle spielt die Aufwertung städtischer Wohnbedingungen? In: Informationen zur Raumentwicklung. Heft 4.2014. S. 267-275.
  • Breyer-Mayländer, T., Zerres, C. (Hrsg.) (2019): Stadtmarketing – Grundlagen, Analysen, Praxis. Springer.
  • Bunge, B. (2018): Tourismus. In: H. Meffert, B. Spinnen, J. Block. [Hrsg.] Praxishandbuch City- und Stadtmarketing. S. 225-242.
  • Glatter, J., Sturm, C. (2020): Lokale Ökonomie der Gentrifizierung – der Wandel des lokalen Gewerbes als Baustein, Effekt und Symbol der Aufwertung von Quartieren. In: Henn, S. et al. (Hrsg.): Lokale Ökonomie – Konzepte, Quartierskontexte und Interventionen. S. 175 – 189. https://doi.org/10.1007/978-3-662-57780-6_13.
  • Gulsrud, N., Henderson, J. (2019): Street Fights in Copenhagen: Bicycle and Car Politics in a Green Mobility City, https://doi.org/10.4324/9780429444135.
  • Henn, S., Behling, M., & Schäfer, S. (2020). Lokale Ökonomie – Konzepte, Quartierskontexte und Interventionen / Sebastian Henn, Michael Behling, Susann Schäfer. (Hrsg.) SpringerSpektrum. https://doi.org/10.1007/978-3-662-57780-6.
  • Herrmann, H. (2019): Ankunftsquartiere – oder: Die Hoffnung auf die integrative Kraft des öffentlichen Raumes. Forschungsinstitut für gesellschaftliche Weiterentwicklung e.V. (FGW), (Hrsg.). https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-66393-4.
  • Moreno, C., Allam, Z., Chabaud, D., Gall, C. & Pratlong, F. (2021): Introducing the “15-Minute City”: Sustainability, Resilience and Place Identity in Future Post-Pandemic Cities. Smart Cities, 4(1), 93–111. http://dx.doi.org/10.3390/smartcities4010006.
  • Nieuwenhuijsen, M.J., Khreis, H. (2016): Car free cities: Pathway to healthy urban living. Environment International, 94:251–262. DOI:10.1016/j.envint.2016.05.032.
  • Ruppert, K. & Schaffer, F. (1969): Zur Konzeption der Sozialgeographie. In: Geographische Rundschau, Vol 21.1969, S. 205-214. Westermann Bildungsmedien Verlag.
  • Schnur, O. (2014): Quartiersforschung im Überblick: Konzepte, Definitionen und aktuelle Perspektiven. In: Schnur, O. (Hrsg.): Quartiersforschung – zwischen Theorie und Praxis. S. 21-56.
  • Schnur, O. (2018): Quartier/Quartiersentwicklung. In: ARL – Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hrsg.): Handwörterbuch der Stadt‐ und Raumentwicklung. S. 1831-1841.
  • Sven E. (2022): Expanding urban green space with superblocks, Land Use Policy, Volume 117, 2022, https://doi.org/10.1016/j.landusepol.2022.106111.
  • Topp, H., Pharoah, T. (1994): CAR-FREE CITY CENTRES. Extract from Transportation journal, Vol 21, No. 3, August 1994.
  • Architektur der DDR (1977): Plan der Gestaltung des Freizeitparks Rabet. Heft 6/1977, S. 350. https://wortblende.files.wordpress.com/2016/07/nsf-rabet-77_02.jpg. (Letzter Zugriff: 29.08.2022).
  • Bundesverband der Deutschen Tourismuswirtschaft e.V. (o.D.): Wirtschaftsfaktor Tourismus. http://www.btw.de/tourismus-in-zahlen/wirtschaftsfaktor-tourismus.html. (Letzter Zugriff: 30.08.2022).
  • Graefe, L. (25.01.2022): Statistiken zum Tourismus. https://de.statista.com/themen/702/tourismus-weltweit/. (Letzter Zugriff: 18.08.2022).
  • Räuchle, C. (13.12.2021): Migrantische Ökonomien in Deutschland. In: Bundeszentrale für politische Bildung. https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/344334/migrantische-oekonomien-in-deutschland/. (Letzter Zugriff: 12.09.2022).
  • Stadt Leipzig (2013): Integrierten Stadtteilentwicklungskonzepts Leipziger Osten (STEK LeO). https://static.leipzig.de/fileadmin/mediendatenbank/leipzigde/Stadt/02.6_Dez6_Stadtentwicklung_Bau/64_Amt_fuer_Stadterneuerung_und_Wohnungsbaufoerderung/Leipziger_Osten_Fotos/Publikationen/Broschuere_Integriertes_Stadtentwicklungskonzept_Leipzig.pdf. (Letzter Zugriff: 08.09.2022).
  • Stadt Leipzig (2015): Bevölkerungsvorausschätzung 2016 – Methoden- und Ergebnisbericht. https://static.leipzig.de/fileadmin/mediendatenbank/leipzigde/Stadt/02.1_Dez1_Allgemeine_Verwaltung/12_Statistik_und_Wahlen/Stadtforschung/Bevoelkerungsvorausschaetzung_2016.pdf. (Letzter Zugriff: 02.09.2022).
  • Stadt Leipzig (2020): Kommunale Bürgerumfrage 2020. https://static.leipzig.de/fileadmin/mediendatenbank/leipzig-de/Stadt/02.1_Dez1_Allgemeine_Verwaltung/12_Statistik_und_Wahlen/Stadtforschung/Kommunale_Buergerumfrage_2020.pdf. (Letzter Zugriff: 11.09.2022).
  • Stadt Leipzig (2021): Integriertes Stadtentwicklungskonzept Leipzig 2030 (INSEK) (Kurzfassung). https://static.leipzig.de/fileadmin/mediendatenbank/leipzigde/Stadt/02.6_Dez6_Stadtentwicklung_Bau/61_Stadtplanungsamt/Stadtentwicklung/Stadtentwicklungskonzept/INSEK_2030/INSEK-Leipzig_2030_Broschure_Teil_1.pdf. (Letzter Zugriff: 06.09.2022).
  • Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen (2022): BIP 2020 in den sächsischen Kreisen: Wachstum nur im Landkreis Leipzig. https://www.statistik.sachsen.de/download/presse-2022/mi_statistik-sachsen_088-2022_bip-kreise-2020.pdf. (Letzter Zugriff: 26.08.2022).
  • World Travel & Tourism Council (o.D.): Economic Impact Reports. https://wttc.org/research/economic-impact. (Letzter Zugriff: 26.08.2022).