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Globale Wissenstransfers – Zwischen Religion und Wirtschaft

In dieser Project-Insights-Folge von SpacEconomics sprechen Franziska Sandkühler und Björn Braunschweig über Transnationalität und Wissenstransfers, sowie darüber

  • was Minderheiten und Minderheitenkonstellationen sind,
  • wie Wissen und andere Ressourcen zwischen Minderheiten verbreitet und adaptiert werden und
  • was dies für (ökonomische) Auswirkungen auf die betreffenden Gruppen hat.

    Aber auch darüber,
  • wieso sich ein Disziplinwechsel manchmal anbietet und wie man sich in einer neuen Disziplin einfindet und
  • welche Schnittmenge es zwischen der Religionswissenschaft und der Wirtschaftsgeographie gibt.

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Franziska Sandkühler forscht im Rahmen des interdisziplinären Projektes „Globale Wissenstransfers und translokale Verflechtungen“ zum Thema Minderheiten und Minderheiten-Konstellationen, speziell muslimischer TatarInnen in Polen.

TatarInnen sind eine autochthone muslimische Minderheit, die nicht nur in Polen leben, sondern auch in anderen Gebieten, beispielsweise in Russland und auf der Krim. „Wichtig zu wissen ist, dass auch polnische TatarInnen keine homogene ethnische Gruppe gewesen sind, bevor sie sich im 17. Jahrhundert im heutigen Polen ansiedelten“, so Franziska Sandkühler. TatarInnen sind seit 2005 in Polen als ethnische Minderheit anerkannt.

„Das Verhältnis von Minderheiten und Mehrheiten macht sich nicht nur an Statistiken und Zahlen fest. Welche Gruppe als Minderheit oder Mehrheit bezeichnet wird und an welchen Kriterien das überhaut festgemacht wird, ist Aushandlungsprozessen und bestimmten sozioökonomischen Kontexten unterworfen.“
Franziska Sandkühler

Polnische TatarInnen sind eine sehr spezifische Gruppe mit einer von vielen Seiten beeinflussten Kultur und Tradition. Daher gibt es anhaltend innerreligiöse Konflikte mit anderen muslimischen Gruppen. Franziska Sandkühler betont: „Minderheiten konstituieren sich nicht nur in Abgrenzung zu einer Mehrheit, sondern auch zu anderen Minderheiten.“ Daher interessiere sie, wie sich die tatarische Identität in Polen in Abgrenzung zu anderen muslimischen Communities in Polen definiert, entwickelt und verändert.

Ein Schwerpunkt in Franziska Sandkühlers Forschung ist der transnationale Wissensaustausch. Innerhalb der tatarischen Community in Polen gibt es sehr unterschiedliche, teils paradoxe Entwicklungen, die auf den ersten Blick kaum miteinander vereinbar scheinen: Einerseits erlebt die tatarische Kultur eine Art kulturelles Revival. Es werden Kontakte zu anderen Communities im Ausland geschlossen und Bräuche adaptiert (so genannte „invented traditions“). Diese neuen Bräuche werden als polnisch-tatarisches Kulturgut etabliert. Gleichzeitig gibt es eine islamische Erneuerungsbewegung, die sich von bestimmten tatarischen Praxen distanziert.
Diese Entwicklungen werfen vielfältige Fragen auf: Woher kommt religiöses und kulturelles Wissen? Wie wird ausgehandelt, welches Wissen anerkannt und verworfen wird? Welchen Einfluss hat Gruppenzugehörigkeit auf den Zugriff auf Ressourcen?

Der Brückenschlag zur Wirtschaftsgeographie entsteht aus der Überlegung, welche ökonomischen Folgen aus eben diesem transnationalen Wissenstransfer, beziehungsweise einem Ressourcentransfer im Allgemeinen, für die TatarInnen entstehen. Für Franziska Sandkühler ist es „beispielsweise sehr interessant, ob es ein Vertrauen zwischen internationalen tatarischen Communities gibt, das den Aufbau ökonomischer Beziehungen erleichtert.“

 „Wie das ökonomische Handeln und Ressourcentransfers in die verschiedenen sozialen Kontexte eingebettet ist und welchen Einfluss die Identifizierungen und Handlungen der AkteurInnen auf diese Transfers haben, stellt einen Schnittpunkt zwischen Religionswissenschaft und Wirtschaftsgeographie dar.“
Franziska Sandkühler

Bereits während ihrer Masterarbeit in der Religionswissenschaft begann Franziska Sandkühler, sich für internationale Beziehungen, Wissenstransfers und den Auswirkungen dieser Beziehungen und Transfers auf die Gesellschaft zu interessieren. So fand sie das Projekt „Globale Wissenstransfers und translokale Verflechtungen“, das in seinen Themenschwerpunkten, Migration und Transnationalität, genau ihrem Forschungsinteresse entspricht.

Sie wagte den Schritt, die Disziplin zu wechseln. Der Einstieg in die Wirtschaftsgeographie sei dabei nicht immer einfach gewesen, räumt Franziska Sandkühler ein: „Teilweise werden ähnlich klingende Konzepte verwendet, hinter denen sich bei den unterschiedlichen Disziplinen ganz Verschiedenes verbirgt.“  Mit Unterstützung ihrer KollegInnen sei es möglich, langsam Fuß zu fassen. Dazu gehört nicht nur, sich ein gewisses fachliches und methodisches Grundwissen der Wirtschaftsgeographie anzueignen, sondern auch Teil einer anderen Wissenschaftscommunity zu werden. Franziska Sandkühler möchte ihren Bezug zur Religionswissenschaft dennoch beibehalten. Sie betont: „Gleichzeitig möchte ich den Geisteswissenschaften, beziehungsweise der Religionswissenschaft nicht völlig abschwören. Daher nehme ich weiterhin an einem Kolloquium der Religionswissenschaft teil.“

„Ich muss noch ausloten, wo genau ich mich zwischen den beiden Disziplinen positionieren möchte. Welche Konzepte lassen sich miteinander vereinen, welche aber vielleicht auch nicht?“
Franziska Sandkühler

Neben diesen Fragen gibt es aber auch ganz forschungspraktische Probleme. „Für mich als nicht-muslimische Deutsche stellt sich öfter die Frage, inwieweit ich beispielsweise eine teilnehmende Beobachtung überhaupt machen kann“, so Franziska Sandkühler. Bereits während der Arbeit an ihrer Masterarbeit habe sie erlebt, dass es nicht von allen Menschen als positiv empfunden wurde, wenn sie beispielsweise eine Moschee besuchte, um dort Beobachtungen zu machen.

„Die Frage ist immer: Was ist meine Rolle als Forschende, inwieweit kann ich als Nicht-Muslima an bestimmten Situationen teilnehmen ohne mich verstellen zu müssen? Und in wie weit wird mir dieser Zugang überhaupt gewährt?“  – Franziska Sandkühler

Dennoch seien genau diese Beobachtungen und das Knüpfen von Kontakten elementar für ihre Forschung. Auch Covid-19 schränke sie durchaus ein. Die Interviewsituation sei am Telefon ganz anders als bei einem richtigen Gespräch. Hier spielten die Face-to-face-Kontakte eine sehr wichtige Rolle und sie hoffe, bald einen längeren Forschungsaufenthalt in Polen durchführen zu können.

Die zahlreichen Herausforderungen, die grundsätzlich in einem Forschungsprojekt stecken seien zusammen mit der Neupositionierung zwischen den beiden Disziplinen nicht immer einfach, so Franziska Sandkühler abschließend. Gerade in Momenten des Selbstzweifels passiere es, dass man sich mit anderen Forschenden vergleicht, die schon Fuß in ihrer Disziplin gefasst haben und deren Themen möglicherweise besser in die Praxis übertragbar erscheinen. Es sei wichtig, sich von solchen Momenten und Eindrücken nicht einschüchtern zu lassen, um sich nicht selbst im Weg zu stehen, gibt Franziska Sandkühler anderen jungen Forschenden mit auf den Weg.

„Dieses selbstkritische Mindset verweist auch auf die gesellschaftliche Debatte, inwieweit Forschung
eine leicht nachvollziehbare, praktische Relevanz braucht und inwiefern die gesellschaftliche Relevanz für Grundlagenforschung nach Außen getragen wird.“
Björn Braunschweig

Zusammenfassung der Folge als Long Read von Clara Aevermann

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