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CoWorking-Spaces als umfassende Daseinsvorsorge?

In der ersten Audioversion der Jena Talks in Economic Geography (JTalks) ist Dr. Janet Merkel (Ökonomie der Stadt- und Regionalentwicklung, Uni Kassel und Stadt- und Regionalökonomie, TU Berlin) zu Gast und unterhält sich mit Björn Braunschweig über Vorzüge, Eigenheiten und Bedeutung von CoWorking-Spaces sowie darüber,

  • wie Vereinzelung der Arbeitsweise und „Zusammenarbeiten“ in CoWorking-Spaces Hand in Hand gehen,
  • warum CoWorking-Spaces als staatliche Daseinsvorsorge verstanden werden können,
  • wie CoWorking-Spaces gleichzeitig offen und exkludierend sein können,
  • wieso CoWorking trotz Corona-Pandemie boomt und
  • warum CoWorking-Spaces tatsächlich die Entwicklung ländlicher Räume fördern können.

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Wer in den ersten Semestern im Geographiestudium oder vielleicht auch im Geographieunterricht aufgepasst hat, weiß, wofür die Schlagwörter „Wir werden weniger, älter und bunter“ stehen: Demographischer Wandel. Doch das „Wir werden bunter“ lässt sich auf so viel mehr als nur die demographische Entwicklung beziehen. Denn auch unsere Arbeitsweise wird stetig individueller. Individuell heißt ja auch „Es passt besser zu mir“, oder? Jein, denn diese Entwicklung hat nicht nur positive Auswirkungen. So bahnt sich auch die Vereinzelung in der Wissensgesellschaft stetig stärker einen Weg. Viele Personen, die in den sogenannten wissensintensiven Dienstleistungen arbeiten, können diese Arbeit unabhängig von einem festen Arbeitsplatz erledigen. So verlagerten auch genau diese Personen ihre Arbeit während der Corona-Pandemie in ihr Home-„Office“; wie auch immer dieses aussah. Neben all den positiven Effekten, die dies für eine Reihe von ArbeitnehmerInnen mit sich brachte, entstehen durch diesen Rückzug aber auch weitere Herausforderungen: Allem voran das Verschwimmen von Arbeits- und Wohnort sowie die Isolation von KollegInnen. Dieser Umstand ist für Freischaffende jedoch kein Novum der Pandemie.

„Es sind vor allem Freischaffende, die CoWorking-Spaces nutzen.
Hier finden sie nicht nur notwendige Infrastruktur und soziale Kontakte, die sie vor der Vereinsamung bewahren, sondern auch Wissen dazu, wie sie ihre Arbeit strukturieren, organisieren und gestalten können.“
Dr. Janet Merkel

So ist der Boom von CoWorking-Spaces eine direkte Folge von globalen Entwicklungen und Veränderungen der Arbeitsweise großer Teile der Gesellschaft: So treten neben eine erstarkende Gig-Economy, also eine Wirtschaft, die davon lebt, das Personen flexibel und auf Auftrags(Gig)-Basis angeheuert werden, statt festangestellt zu sein auch flexiblere Vorstellungen dessen, was wir als Gesellschaft unter „Arbeitsort“ verstehen. Ausdruck finden diese veränderten Herangehensweise an „Arbeit“ in individuellen „Workscapes“, also persönlichen „Arbeitslandschaften“. Verschiedene Aufgaben werden an verschiedenen Orten durchgeführt. Konzeption? Vielleicht lieber ins Café. E-Mails beantworten? Dann doch lieber in Ruhe am Schreibtisch formulieren. Brainstorming?… Da wird es als selbstständige Person schon schwerer. CoWorking-Spaces können diesen Wunsch nach Individualisierung erfüllen. Gleichzeitig erhalten sie die soziale Stabilität:

Sie bieten den NutzerInnen technologische Infrastruktur. Sie bieten soziale Kontakte, die denen mit KollegInnen in Nichts nachstehen. Sie erlauben Wissensaustausch mit anderen Freischaffenden, die sich in ähnlichen Situationen sehen und die aufgrund fehlender Organisation durch ArbeitsgeberInnen in der gleichen Situation sind; Sie müssen ihre Arbeit und ihren Erwerb selbst strukturieren und organisieren – zusätzlich zum Kerngeschäft und der Erledigung der eigentlichen Arbeit. Insofern bieten CoWorking-Spaces gleichzeitig Halt, ohne dabei jedoch einzuschränken. Das ausgetauschte Wissen kann zum Wettbewerbsvorteil in einer Wirtschaft werden, in der – je nach Branche – die Gigs hart umkämpft sind. Kreativität fördernde offene Designs von CoWorking-Spaces erscheinen angesichts der anderen Vorteile dabei fast vernachlässigbar.

„Den richtigen Boom haben CoWorking-Spaces jedoch nicht nur den Freischaffenden und
der Gig-Economy zu verdanken. Es sind auch immer mehr große Firmen,
die ganze Etagen in großen CoWorking-Spaces anmieten. CoWorking-Spaces erlauben also auch
Unternehmen eine Flexibilisierung. Büroflächen müssen nicht mehr langfristig gemietet und unterhalten werden, sondern ich habe hier quasi einen allumfassenden Facility-Manager durch die großen CoWorking-Anbieter“
Dr. Janet Merkel

Doch auch Unternehmen profitieren von den großen CoWorking-Anbietern: So müssen keine Büroflächen mehr angemietet, verwaltet, unterhalten und passend stilvoll eingerichtet werden, sondern ein externes Unternehmen übernimmt all das. So mieten sich auch immer mehr Unternehmen in große CoWorking-Spaces ein und belegen zum Teil mehrere Etagen, zu denen jedoch nur die eigenen MitarbeiterInnen Zugang haben. Ein lange als das Merkmal von CoWorking-Spaces angesehener Aspekt der zufälligen Begegnung und die Förderung des Local Buzz, die ja bekanntlich beide Innovationstreiber sind, entfällt. Was bleibt ist eine flexibel einsetzbare Bürofläche, deren gesamte Organisation im Sinne eines „Alles-in-Einem“-Hausmeisters outgesourct und somit cent-genau berechenbar ist.

Damit wird auch deutlich, warum CoWorking-Spaces so immense Wachstumserwartungen haben: Nicht trotz, sondern wegen Corona. Die Arbeitsweise flexibilisiert sich weiter, weil weite Teile der ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen in den wissensintensiven Dienstleistungsbranchen die Vorteile verringerter Pendelzeit auf der einen und Bürofläche auf der anderen Seite erkannt haben. CoWorking-Spaces können die so entstehenden Lücke für beide Seiten füllen und so zukünftig nicht mehr hauptsächlich auf Freischaffende, sondern auch auf Angestellte bzw. deren ArbeitgeberInnen als KundInnen setzen.

„CoWorking-Spaces haben einerseits diesen wahnsinnig inklusiven Charakter, der sich auch daran zeigt, dass SeniorInnen von der Straße schon in so manches Büro marschiert sind, um sich für einen Kaffee niederzulassen. Andererseits sind sie auch Orte der Produktion und Reproduktion von ausschließenden Mechanismen. In Nordamerika sind 90 % der CoWorking-NutzerInnen weiß. Der Ausschluss von BIPOC* wird hier also auch statistisch sehr deutlich.“
Dr. Janet Merkel

Durch diese Entwicklung bei ArbeitnehmerInnen und ihren ArbeitgeberInnen können CoWorking-Spaces in ländlichen Räumen die seit Jahren geforderte Verlagerung von Arbeitsorten in ländliche Räume befördern. Mit CoWorking-Spaces können Kleinstädte und Dörfer als Wohnorte noch attraktiver werden. Gleichzeitig besteht die Hoffnung, dass CoWorking-Spaces neue Lebensmittelpunkte in eventuell vom Aussterben bedrohte Zentren werden. Die hohe Verweildauer der dort arbeitenden und die damit einhergehende Belebung dieser Orte birgt dabei spezielles Potenzial, das vorherige Konzepte nicht mitbringen konnten.

Diese ganzen – zum Teil gesamtgesellschaftlichen – Vorteile stehen jedoch nicht allen Personen offen. So zeigt sich in Studien, dass Ethnie und Race** starke ausschließende Faktoren sein können. Immerhin sind 90 % aller CoWorking-NutzerInnen in Nordamerika weiß. Doch auch andere Eigenschaften wie das Geschlecht können entsprechende Mechanismen nach sich ziehen. So kann das Layout von CoWorking-Spaces, das bewusst offen gehalten ist, um Kreativität zu fördern und möglichst inkludierend zu sein, für weiblich gelesene Personen auch das genaue Gegenteil erreichen. Die Folge ist auch eine Diversifizierung der CoWorking-Spaces: Speziell für Frauen, von BIPOC selbst betrieben und auf die Ansprüche spezifischer NutzerInnen-Gruppen zugeschnitten. Entsprechend ist für Janet Merkel das Studium von CoWorking-Spaces noch nicht vorbei. Sie will sich zukünftig noch stärker diesen sozialen Fragen widmen. Im Fokus stehen dann nicht nur Raumzugänge, sondern auch die Rolle von CoWorking-Betreibern als UnterstützerInnen auf sozialem und emotionalem Level, die Bedeutung von CoWorking-Spaces im Hinblick auf Care-Arbeit und nichtsdestoweniger auch (soziale) Unterschiede im Nutzungsverhalten.

„Wir können CoWorking-Spaces mit ihren ganzen Vorteilen durchaus als Daseinsvorsorge verstehen.
Dafür brauchen wir aber vor allem in ländlichen Räumen staatliche Unterstützung.
Zumindest dann, wenn wir die Potenziale für das Allgemeinwohl und
eine ausgewogene räumliche Entwicklung nutzen wollen.“
Dr. Janet Merkel


*BIPOC beschreibt verschiedene Bevölkerungsteile, die alle auf ihre Art unterschiedlich, aber dennoch insgesamt von rassistischer Diskriminierung betroffen sind. Der Begriff steht als Erweiterung von POC (Person of Colour) und nimmt auch Black und Indigenous Personen auf. Deutsche Entsprechungen sind vielfach mit Rassismen besetzt, weswegen auf diese Bezeichnung zurückgegriffen wird, die auch von den betroffenen Communities selbst genutzt wird.

**Da auch hier die deutsche Entsprechung mit Rassismen belegt ist, wird auf die englische Entsprechung, die auch in der Wissenschaft Anwendung findet, zurückgegriffen.

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