In den TheorieSnippets von SpacEconomics wird wirtschaftsgeographisches Fach- und Hintergrundwissen von StudentInnen für StudentInnen aufbereitet – für weitere spannende Einblicke in unsere Fachdisziplin! Mit der zweiten Folge starten wir in eine Reihe über wirtschaftliche Entwicklung. Die Reihe wird verschiedene Perspektiven auf das Thema wirtschaftliche Entwicklung aufspüren, Ansätze zum Messen und Darstellen wirtschaftlicher Entwicklung nachvollziehen und den Begriff und das Konzept der wirtschaftlichen Entwicklung reflektieren. Als Einstieg in diesen vielschichtigen Themenbereich wir der Human Development Index (HDI) unter die Lupe genommen. Dabei wird deutlich, dass
- Indizes immer nur einen vereinfachten Blick auf die Welt bieten,
- die jeweilige Perspektive stark von der Konzeption des Indexes abhängt,
- die Aussagen des HDIs in Bezug auf wirtschaftliche Entwicklung immer im Kontext zu betrachten sind und
- Erweiterungen des HDI dennoch für präzisiere Aussagen zurate gezogen werden können.
Schreibt uns für Fragen, Kommentare und Anregungen gern an:
The Longer Read
Der Human Development Index oder kurz HDI, wurde 1990 von der UN entwickelt, um Unterschiede in der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung einzelner Nationalstaaten zu erfassen und zu dokumentieren. Indexwerte sind dabei immer Kennziffern, die sich aus vorher festgelegten Vergleichsgrößen ableiten. Im Falle des HDI gibt es drei Indikatoren:
- Ein langes und gesundes Leben
- Bildung und Wissen sowie
- ein angemessener Lebensstandard.
Für diese drei Indikatoren haben die EntwicklerInnen des HDI Optimalwerte festgelegt. Einzelne Länder bekommen dann Verhältniswerte zu diesem Optimalwert zugeordnet, die dann demnach den Ist-Zustand der Staaten in Bezug auf ihre Ausprägung der Indikatoren als Zahl vereinfacht abbilden. Diese drei Verhältniswerte fließen zu gleichen Anteilen in den Gesamt-HDI ein – es entsteht also ein Mittelwert, der seinerseits ein Verhältniswert zu einem Gesamtoptimum darstellt.
Der maximale Wert, den der HDI erreichen kann, ist 1,0. Ein HDI von 0,8 oder höher bedeutet dabei eine sehr hohe Entwicklung. Mit 0.957 führt Norwegen die aktuelle HDI-Rangliste an. Deutschland befindet sich auf Platz 6 mit einem Wert von 0.947. Länder im Wertebereich von 0,7-0,799 haben einen hohen Entwicklungsstand, dazu gehören beispielsweise Mexiko, China oder auch Ägypten. Mittlere Werte im Bereich von 0,55-0,699 haben Länder wie Kirgistan, Syrien oder Indien. Alle Werte unter 0,55 stehen für einen niedrigen Entwicklungsstand. An dieser Stelle sei noch einmal betont, dass diese Einteilung der Staaten auf einer Skala von „Entwicklungsländern“ zu „hoch entwickelten Ländern“ durchaus kritikwürdig ist. Hier soll aber zunächst der HDI als erstes Konzept zu einer Messung und Darstellung wirtschaftlicher Entwicklung dienen. Eine ausführliche kritische Begriffsklärung für „wirtschaftliche Entwicklung“ wird in einer späteren Folge noch aufgegriffen.
Gerade die starke Korrelation des HDI mit dem BNE ist ein zentraler Kritikpunkt an der Aussagekraft des HDI. Es gibt allerdings auch Erweiterungen des HDI, die genau diesen Kritikpunkt zu verarbeiten versuchen, etwa der Gender Inequality Index (GII): Dieser gibt explizit Auskunft über geschlechterspezifische Ungleichheiten. Die einzelnen Dimensionen des HDI werden hier für Männer und Frauen separat betrachtet. Dies führt teilweise zu erheblichen Abweichungen. Saudi-Arabien etwa belegt den 40. Rang beim HDI und gehört damit zu den Ländern mit einer sehr hohen Entwicklung gemäß der Definition von Entwicklung, die dem HDI zugrunde liegt. In Bezug auf den GII, gehört es allerdings zu den Ländern mit sogenannter „niedriger Gleichheit“. Länder in dieser Kategorie weisen eine absolute Abweichung der HDI-Ergebnisse von Männern und Frauen von über 10 % auf. Bei Saudi-Arabien zeigt sich das besonders am BNE pro Kopf. Jenes der Männer ist im Vergleich zu dem der Frauen mehr als viermal so hoch. Und auch in Deutschland sind geschlechterspezifische Unterschiede messbar. In der Definition des GII zählt es damit zu den Ländern mit „mittlerer bis hoher Gleichheit“ der HDI-Ergebnisse von Frauen und Männern (vgl. HDR 2021: 48 ff.).
Anhand des GII wird besonders deutlich, wie stark die Aussage eines Indexes von der Art der Realitätsvereinfachung, die aus dem Index-Konzept resultiert, abhängt. Indexwerte sollten daher nie einfach hingenommen, sondern immer hinterfragt werden, um ihre Aussagekraft einordnen zu können.
Im aktuellen HDI-Bericht wird noch ein ganz anderes, aktuelles Thema aufgebracht: Der Klimawandel und seine Folgen für die menschliche Entwicklung. Das Human Development Report Office der UN stellt darin das Konzept eines neuen Indexes vor: Der PHDI. Das P steht dabei für planetary pressures, also für planetare Belastungen. Im PHDI soll der Entwicklungsbegriff komplett neu ausgelegt werden und zwar mit einem Schwerpunkt auf Nachhaltigkeit. Dieser Impuls resultiert aus der Beobachtung, dass der Mensch durch seinen Einfluss auf Umwelt und Klima die globalen Ungleichheiten bereits jetzt deutlich verschärft (HDR 2021: 3 ff.) Gleichzeitig konnte das HDR-Office aufzeigen, dass Länder mit einem hohen HDI-Wert deutlich mehr zum Fortschritt der Klimakrise beitragen als Länder mit einem niedrigen HDI. Je höher die „Entwicklung“ im Sinne des HDI ist, desto mehr wird also auch dem Klima geschadet.
„Im vorliegenden Bericht wird ein gerechter Transformationsprozess gefordert, bei dem die menschlichen Freiheiten erweitert und gleichzeitig planetarische Belastungen verringert werden. […]Es ist eine grob vereinfachte Art und Weise, […] den Prozess der menschlichen Entwicklung neu zu definieren, nämlich als Prozess, bei dem die erweiterten menschliche Freiheiten auch die planetarischen Belastungen verringern.“
(HDR 2021: 11ff.)
Die recht statische Perspektive auf Entwicklung innerhalb des HDI wird hier also dynamisch: Der HDI bildet zuallererst unterschiedlichen Entwicklungsstände anhand der vergleichsweise oberflächlichen Faktoren Lebenserwartung, Bildung und Lebensstandard ab. Aufstiege im Ranking hängen jedoch vor allem an einem steigenden BNE. In einem PHDI würde Entwicklung aber plötzlich ganz anders ausgerichtet, nämlich als Erweiterung menschlicher Freiheiten und gleichzeitige Entlastung des Planeten. Ein dementsprechend überarbeiteter HDI könnte die Möglichkeiten einer positiven vertikalen Mobilität im globalen Vergleich messbar machen. Dieser Ansatz der Neuauslegung des Entwicklungsbegriffs zeigt auf, welche Fragen diese TheorieSnippet-Reihe noch beschäftigen werden:
- Wie kann, wurde und wird wirtschaftliche Entwicklung eigentlich definiert und zu messen versucht?
- Welche Kritik an den gängigen Konzepten wächst aus der Auseinandersetzung mit den Konzepten und der Reflexion des Themas möglich?
- Welche Konsequenzen folgen dann für eine neue Perspektive auf wirtschaftliche Entwicklung?
Fragen, Kommentare, Anregungen und Themenwünsche gern unten in die Kommentarbox schreiben.
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Literatur
HDR (Human Development Report Office) 2021: Human Development Report 2020, UN, New York.
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Links zur Folge
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Pingback: Internationale Zusammenarbeit für eine nachhaltige Entwicklung – wie kann das funktionieren? – Die Blogs der Universität Jena
Pingback: Grenzenlose Produktion unter die Lupe genommen | GVC und GCC – Die Blogs der Universität Jena
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